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Eine gekürzte Fassung dieses am 15. März 2002 geführten Gesprächs erschien in Heft 20 der Losen Blätter. Seit Oktober 2005 liegt es, zusammen mit Grünbeins Dresden-
Gedichten, in dem Insel-Band Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden vor.

 
Auch Dresden ist ein Werk des Malerlehrlings
Renatus Deckert im Gespräch mit Durs Grünbein
 
In der Dialektik der Aufklärung gibt es den schönen Satz: »Heimat ist das Entronnensein.« In Ihrem Aufsatz Chimäre Dresden heißt es: »Dort bin ich geboren, und es brauchte viel List, da herauszukommen.« Worin bestand diese List?
   Das Reizwort ist List, und natürlich sind in diesem Text die berühmten Listen des Odysseus gemeint. Eigentlich ist es eine Umkehrung, denn bei Homer werden die Listen angewandt, um nach Hause zurückzukehren. Odysseus muß seinen ganzen Scharfsinn in die Waagschale werfen, um irgendwann wieder in Ithaka anzukommen. Hier verhält es sich genau umgekehrt, denn es ging darum, einer ursprünglichen Situation zu entkommen, was in einer abgeschlossenen Gesellschaft wie der DDR besonders fatal war. Alles lief auf die Frage hinaus, wie man nach Westen kam. Das Motiv war Sehnsucht nach Weltkultur. Dieser Begriff von Mandelstam hat mich schon früh geleitet. Der Wille, den innersten Zirkel des Geburtsortes zu durchbrechen, um hinauszugelangen in die Welt und in die großen Städte, in denen alles sich abgespielt hatte: Geschichte und Kunst. Ich vermute, daß jeder Ort, an den man durch den Zufall der Geburt gebannt ist, sich eines Tages als Provinz herausstellt. Selbst wenn jemand in New York geboren ist, wird ihn eines Tages das Provinz-Syndrom überfallen. Es geht immer darum, nicht stehenzubleiben. Für den Künstler gilt das in ganz besonderem Maße. Man muß aufbrechen, um wie Odysseus eines Tages wiederkehren zu können.
 
In Ihrem Gedichtzyklus Europa nach dem letzten Regen finden sich die Zeilen: »Stadt im Flockenwirbel vor beschlagner Brille – / Bei der ersten Heimkehr ging sie unbemerkt verloren.« Der Verlust der Heimat: wie fühlte der sich an?
   Dieses Gedicht beschreibt den kritischen Moment der Ankunft nachts auf dem Bahnhof der ehemaligen Heimatstadt Dresden. In Uniform, zum erstenmal wieder zurück aus der Uckermark, wo ich stationiert war, den Urlaubsschein in der Tasche. Damals ist mir plötzlich klar geworden, daß ich in der innersten Zelle des Systems angelangt war. Die große Lektion dieses Momentes war zu wissen, daß keiner auf dich wartet. Du bist ganz auf dich gestellt, aufgegeben von allen. Du könntest ebenso gut tot sein. Es könnte eine Meldung gegeben haben: Ist leider beim Manöver tödlich verunglückt. Dieser Gedanke zieht sich noch durch viele andere Texte. Die Frage, wie die Welt aussieht, wenn ich nicht mehr bin. Bin ich hier vielleicht nur ein zufälliger Betrachter meiner eigenen postumen Situation? Es hat natürlich einen hohen Reiz, auf diese Weise vor allem zu fliehen. Es liegt Eskapismus darin, wenn man sich zum Beobachter eines unmöglichen Futurs macht. Dieser Gedanke auf dem Bahnhof, daß es am Ende egal war, ob der Sarg mit den sterblichen Überresten hier ankam oder ich selber, hatte auch etwas Befreiendes. In diesem Augenblick wußte ich: Du kannst dich auf nichts und niemanden mehr berufen. Von jetzt ab mußt du genau nachdenken, wie du hier herauskommst. Zum erstenmal konnte ich den Ort, in dem ich meine Kindheit und Jugend erlebt hatte, wirklich von außen betrachten. Das beschreibt diese Winterszene. Die Stadt im Flockenwirbel ist mir unvergeßlich. Es war eine Befreiungsszene.
 
Eine andere Stelle in dem Zyklus lautet: »von so einer Stadt / Träumt man leicht, bis man schwarz wird.« Was war das Besondere an Dresden?
   In all den Schilderungen der Großeltern und der Menschen, die das Alte Dresden noch kannten, kam zum Ausdruck, wie außergewöhnlich diese Stadt gewesen sein muß. Wahrscheinlich war Dresden die schönste italienische Stadt nördlich der Alpen. Eine barocke Residenzstadt in all ihrer Pracht, eine der großen europäischen Kulturstädte. Und nun war diese Stadt auf fürchterlichste Weise zerstört und nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aber noch dieser Schatten teilte sich den Jüngeren mit. Auch als Spätgeborener konnte man die verlorene Vergangenheit erfassen. Dresden war auf der Weltkarte einer der Punkte, wo die Musen sich getroffen hatten. Es ist kein Zufall, daß sehr viele musisch begabte Menschen aus dieser Gegend kamen. Böse Zungen behaupten, daß die deutsche Nachkriegsmalerei aus Sachsen kam. Andere ergänzen, daß es mit der Dichtung ebenso ist. Dieses Erbe kann ein Fluch sein, weil man immer eine große Verpflichtung mit sich herumschleppt. Ich erinnere nur an einen solchen Fall wie Brodsky, der es immer als Verpflichtung ansah, Petersburger oder Leningrader zu sein, und der das überall draußen in der Welt als Echo wiederfand. Auf andere Weise geht es mir ähnlich. Jene Italophilie, die ich zunächst ganz unbewußt empfand, ist ganz deutlich das Echo dieses frühen ästhetischen Erbes. Das ging mir auf, als ich zum erstenmal nach Italien kam und dort einige dieser wunderbaren Renaissance-Städte sah. Die Verbindungslinien zu Dresden sind ganz offensichtlich, wenn man weiß, daß viele der Baumeister Dresdens Italiener waren. Die Architektur, die enorme Gemäldesammlung europäischer Malerei, die Musik, das Klima, die Landschaft, der Fluß: alles das war eine grandiose Erbschaft, die man antrat, noch bevor man sich ihrer bewußt war. Und erst allmählich, im Lauf des Lebens, wurde einem klar, was das eigentlich bedeutete.
 
Ein Zitat aus dem erwähnten Aufsatz: »Prachtvoll waren viele Städte, einen tragischen Untergang hatten andere auch, aber keine kultivierte die Erinnerung an die Zeit vor der Zerstörung mit soviel schmerzvoller Nostalgie, keine lebte so sehr vom Phantombild ihrer einstigen weltstädtischen Silhouette.« Wie hat diese Atmosphäre Sie geprägt?
   Schon als Kind hatte ich den Wunsch, das Stadtbild sozusagen im Traum zu komplettieren. Während die Älteren genau wußten, was fehlte, weil sie immer diesen Kontrast sahen, mußte man als Jüngerer vermittels des Phantomschmerzes sich jenen Kontrast erst erarbeiten. Allmählich wurde einem immer klarer, wo genau die Lücken waren und was wo gestanden hatte. Das aber ist nur eine Allegorie für einen viel größeren Prozeß, den der Psychologe Alfred Adler beschreibt: das Fehlen gewisser Organe, das man zunächst versucht, sich bewußt zu machen und dann ganz allmählich zu kompensieren. Allein die Geburt ist schon ein Trauma. Wenn dann auch noch der Geburtsort zum Trauma wird, so spielt das sicher eine große Rolle im Leben. Oft habe ich geflucht, weil ich gedacht habe, es wäre besser gewesen, an einem neutralen Ort aufgewachsen zu sein. Stattdessen war Dresden immer noch eine Projektionsfläche für viele draußen in der Welt. Dieser enorme Wille, mit dem heute dort der Wiederaufbau der Frauenkirche vorangetrieben wird, ist keineswegs zufällig. Daß dieser Wille zum Weiterleben, auch zum ästhetischen Weiterleben, sich aus einem fundamentalen Verlustgefühl speist, das beschäftigt mich stark, denn es ist gewiß eine Dialektik, die da wirkt.
 
Ich selber habe dieses ständige Verweisen auf das Alte Dresden immer auch als Ballast empfunden. Diese ewige Trauerarbeit ging einher mit einer Rückwärtsgewandtheit, die die Sinne für das Neue vernebelte.
   Ich sehe keinen Grund für Nostalgie, und wenn doch, so können wir sie ganz schnell überspringen. Es gibt kein Zurück, das wissen wir alle. Die Verluste von gestern sind dieselben Verluste, die uns in der Zukunft erwarten. Ich glaube, daß die Erfahrung von Verlusten, je früher man sie macht, einen für Zukunftsideologien weniger anfällig macht. Ich sehe darin sogar einen Entwicklungsvorsprung. Es ist dieser Bewältigungswille, der sehr früh zum Vorschein kommt, gepaart mit viel Ironie. Es ist gleichsam so, als hätte man schon sehr viel früher, in einem Prozeß, der zum Erwachsenwerden gehört, die Trauerarbeit um das Vergehen von Zeit, aber auch um das Vergehen von Raum, gebautem Raum, bewältigen müssen. Ich vermute, daß daher auch dieser spezifische Dresdner Humor, in meinem Fall wohl eher Sarkasmus, kommt. An dieser Stelle setzt dann auch der Dialog mit den Toten ein, der für mich das Wesen von Literatur ist. Und das in einem sehr positiven Sinne: Wir können uns die Situation ausmalen, wie wir eines Tages im Orbit kreisen und hinunterschauen auf diese ausgepowerte Erde. Dann werden wir immer noch diesen Dialog führen. Man könnte also sagen, das elegische Bewußtsein ist eine Investition in die Zukunft.
 
In Ihrem Gedicht über Dresden gibt es die Zeilen: »Auch Dresden ist ein Werk des Malerlehrlings / Mit dem in Wien verstümperten Talent / Der halb Europa seinen Stilbruch aufzwang.« Sie als Nachgeborener sehen diesen Verlust ganz rational.
   Die Lektion, die man zu lernen hatte, war, einzusehen, daß Dresden nicht zufällig untergegangen war. Es gab darüber auch immer einen Streit zwischen Enkeln und Großeltern und auf meiner Seite die deutliche Gewißheit: Das habt ihr euch selber mit zuzuschreiben. Es ging nicht um Schuldzuweisungen. Es ging darum zu begreifen, daß es so gekommen war aufgrund einer historischen Kausalität. Man kann nicht den Tod überall hintragen ins ganze europäische Ausland und sich dann wundern, wenn man die große Niederlage am eigenen Leib erlebt. Ganz brutal mit Hegel gesprochen, war die Zerstörung Dresdens eine historische Notwendigkeit. Von den Nazis wurde sie sogar hysterisch begrüßt. Goebbels sprach von den zerschmetterten Gefängnismauern. Und Robert Ley frohlockte nach dem Angriff vom 13. Februar, nun werde man endlich nicht mehr abgelenkt durch die Denkmäler deutscher Kultur. Mittlerweile gibt es Untersuchungen über den Anteil der einzelnen deutschen Regionen am Heraufkommen des Nationalsozialismus. Der Anteil Sachsens ist überdurchschnittlich groß. Das spätere Gau Sachsen mit seinem unsäglichen Gauleiter Mutschmann ist ein Beleg dafür, wie tief gerade die Stadt Dresden verstrickt war. Wir kennen diese Anekdoten, wie nach den ersten Bombardements auf Dresden sofort die Brücken wiederhergestellt wurden und wie dieser Mutschmann versucht hat, die Bevölkerung wieder in den Griff zu kriegen. Es durfte kaum getrauert werden. Schnell wurden die Leichen weggeräumt und die Trümmer möglichst rasch beseitigt, bis auch das nicht mehr ging. Den sächsischen Antisemitismus hat Victor Klemperer sehr eindrücklich aufgezeichnet. Das sind ganz unerfreuliche Elemente in dieser Stadt, die, so ist es nun einmal historisch, die eigene war.
 
Das aber wußten andere auch schon. Und doch ist bei Ihnen viel weniger Emotion im Spiel als zum Beispiel bei Heinz Czechowski, der einer Generation angehört, die das Alte Dresden noch aus eigenem Erleben kennt.
   Czechowski ist in gewissem Sinne ein Heimkehrer. Er ist im Schreiben mehr als wir alle heimgekehrt. Dennoch ist es sehr auffällig, daß er diesen Ton so deutlich erst seit den neunziger Jahren anschlägt. Das hat mit einer neuen Freiheit zu tun. Es war ja ein Tabu in einer Gesellschaft, die glaubte, alles Alte überwunden zu haben, sich der Verluste überhaupt zu vergewissern. Dazu aber ist Schreiben unter anderem da. Irgendwann kommt der Punkt, wo man sich überlegt, was von dem, was man vorgefunden hat, so wichtig ist, daß man es in metaphysischem Sinne festhalten will. Die Frage, wie man das tut, ist sicher Ausdruck eines Temperaments. Als Kinder des zwanzigsten Jahrhunderts wissen wir alle, daß uns immer ein Schritt hinauszieht in eine unbekannte Zukunft, daß aber irgendeine Hand sich noch am Geländer festhalten will. Das ist die Grundbedingung in dieser Zeit, in der die Prozesse sich derart beschleunigt haben.
 
Den Untergang Dresdens haben Sie immer nur aus zeitlichem Abstand reflektieren können. Erst 1989 war Geschichte für Sie ganz greifbar zu erleben. In einem Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks sprechen Sie von einem heilsamen Schock, der Sie erfaßt hat, als Sie sahen, wie ein Staat mitsamt seiner Gesellschaft über Nacht verschwand. Mehrfach taucht bei Ihnen dieses Bild des russischen Panzers auf nach einer Demonstration im Herbst 1989 in Berlin.
   Ich war an einem Punkt angelangt, wo ich am eigenen Leib erfuhr, daß es keinen Ausweg mehr gab, sondern nur noch eine Müdigkeit mit allem. So wie der Untergang Dresdens ein Verlust war, der auf einen selber zurückfiel, war auch dieser nachfolgende Versuch einer Gesellschaft, dieser unglückliche Sozialismus, nur wieder ein selbstverschuldetes Opfer gewesen. Alle guten Vorsätze, alle historischen Ambitionen, alle Korruptionen und Ideologien hatten 1989 ganz notwendig zu diesem Zusammenbruch geführt. Ich sage das ohne Triumph. Ich empfand nur noch eine große Erschöpfung angesichts dieser Kriegsmaschine, die da mit eingedrehter Kanone stand. Das ist auch ein Gefühl gewesen, das mich immer herauskatapultiert hat aus unmittelbaren politischen Kampfsituationen. Ich habe irgendwann keinen Sinn mehr darin gesehen, weiterzukämpfen. Ich wollte nur noch in Frieden gelassen werden von dieser unseligen Geschichte. Im Hintergrund steht da sicher auch die Erfahrung beim Militär: dieses grundsätzliche Ausgesetztsein, diese enormen Ohnmachtsgefühle und das Wissen, als Einzelner nichts ausrichten zu können gegen einen geballten Staatsapparat. Ich wollte nur noch mich hinsetzen und wie der Melancholiker bei Dürer nachdenken dürfen über alles, wie es gekommen war. Somit bin ich wahrscheinlich prinzipiell auch politisch ein endgültig befriedetes Wesen. Ich habe keinerlei Vorwürfe mehr an irgendeine Adresse zu richten. Die unmittelbaren Agenten und Exponenten sind dahingeschieden oder haben sich wieder neu eingereiht. Ich werde ihrer nicht habhaft, ich will mit ihnen nichts zu tun haben. Ich möchte nur loslassen und in Ruhe trauern können. Zugleich aber erlaube ich mir diesen offenen Blick und einen Ingrimm, der sich plötzlich auch gegen mich richten kann. Da es sich um kollektive Prozesse handelt, lassen sie sich schwer einzeln zuschreiben, wobei es gut ist, daß es Historiker und politisch denkende Menschen gibt, die in jedem Fall immer neu darum ringen. Es ist sogar denkbar, daß eine Literatur daran mitwirken könnte. Ich denke, die Dichtung ist dafür weniger prädestiniert. Dichtung findet immer schon im Jenseits der Historie statt. Sie ist sich darum auch eher der Nachteile bewußt als des Nutzens der Historie, um mit Nietzsche zu sprechen. Grundsätzlich ist die Geschichte des Menschen Pleite. Der Mensch hat in seiner Substanz enorm gelitten. Und wenn man das eines Tages aufarbeiten will, müßte man viel fundamentaler ansetzen und am einzelnen beginnen, und jeder einzelne für sich.
 
Wie wichtig ist die Geschichte für Ihre Dichtung?
   Krass gesprochen, dachte ich immer, daß Klio eine entsetzliche Hure ist. Für die Griechen war Klio ja mehr als nur die historische Muse. Sie war auch noch die Verkörperung der anderen Möglichkeit, nämlich die des Gesangs. Das muß man wohl zusammen denken. Für mich war Geschichte immer das rein epische Material. Zugleich aber war sie immer auch das Unzugängliche. Es lag mir immer voraus, es war immer schon geschehen. Ich konnte es wenig beeinflussen, jedenfalls den großen Verlauf. Details schon. Es gibt in jedem Leben diese Schlüsselszenen, in denen man sich so oder so verhalten konnte. Und das beste, was es immer noch gibt, ist Zivilcourage, zumal in Zeiten, wo alles in kollektiven Prozessen abläuft. Zivilcourage liegt aber auch vor der Schrift. Das ist ein Paradox. Ich glaube, es war Brecht, der irgendwo fabuliert hat, daß Zeiten gut seien, in denen man nicht Held sein müsse. Ich würde umgekehrt sagen: Es ist prinzipiell gut, wenn irgendeiner Held ist in seiner Wirklichkeit. Doch in dem Moment, wo er zugleich Künstler sein will, hat er ein gewaltiges Problem. Held und Künstler sein zu wollen, geht oft schwer zusammen. Das eine geht nur auf Kosten des anderen. Es ist auffällig, daß die meisten Künstler ein recht lockeres Verhältnis zur Realität haben. Gerade im zwanzigsten Jahrhundert haben viele von ihnen ihr Verhältnis zur Wirklichkeit oftmals nur als ideologische Verstrickung erlebt. Alle moralischen Fragen wurden in soziale Diskurse aufgelöst. Statt den Nutzen und Nachteil der Historie fürs eigene Leben kühl abzuwägen und gegebenenfalls radikale persönliche Entscheidungen zu treffen, betete man lieber den Götzen Geschichte an.
 
In Volker Brauns Gedicht Dresden als Landschaft heißt es halb ironisch, halb programmatisch: »Mickel Czechowski Braun Tragelehn / Exilieren nach Preußen«. Sie selbst haben Dresden eine Generation später verlassen. Was hat dieser Exodus der sächsischen Dichter nach Berlin zu bedeuten?
   Für mich war Berlin die Ausgangstür aus der DDR. Ich kam hierher, weil ich weiter weg wollte. Und weil Berlin sicherlich der Ort in der DDR war, an dem man noch die größten Entwicklungschancen hatte. In Berlin konnte man jede Menge am Osten interessierte Westler treffen. Ich habe damals die ersten Bekanntschaften mit Kunsthistorikern, Germanisten und Künstlern aus Westeuropa geschlossen. Hinzu kam die paradoxe Spaltungssituation. Nirgends gab es eine Stadt, durch die eine ähnliche Trennungslinie ging. Bis heute glaube ich, daß es wenige Städte wie diese gibt, vielleicht überhaupt gar keine. Ich bin noch immer hier, weil Berlin der ideale Transitraum geworden ist und ein ganz zentraler europäischer Ort, an dem sich die Kräfte sammeln. Von hier aus kann ich schnell und in alle Richtungen aufbrechen. Und wenn man aus einer der großen Weltstädte zurückkehrt, ist Berlin sicher der tröstlichste Ort.
 
Für Sie war es kein Gang nach Preußen?
   Nein, in meinem Fall ist es ein reiner West-Exodus gewesen. Natürlich gibt es in der Geschichte diesen Urgegensatz zwischen Preußen und Sachsen. Aber dieses Kapitel, das heute wieder auf der Tagesordnung steht, halte ich für reichlich absurd. Sehr auffällig sind gerade in Dresden die Bestrebungen, sich an alte Identitäten zu klammern. Diese fixe Idee, unbedingt ein Freistaat werden zu müssen wie die Bayern, zeigt die historische Kraft, die da am Wirken ist. Sehr stark ist in Dresden auch der Genius loci, der diesen regionalen Stolz hervorbringt. Ein interessanter Zug dabei ist, daß viele Künstler, die aus Sachsen weggegangen sind, rasch vergessen waren. Wer wie unsereins fortgegangen ist, darf gerade in Dresden nicht erwarten, daß irgend jemand ihm dort auch nur eine Träne nachweint. Das hat sich mir sehr deutlich gezeigt an einer so großartigen Künstlerfigur wie Penck. Ich spüre das selber auch. Es ist schon bemerkenswert, wie selten man nach Hause gebeten wird. Im Laufe der letzten Jahre habe ich mehr Lesungen in Essen gehabt als in Dresden, was nichts aussagt über das Verlangen des Publikums, aber über offizielles Kulturmanagement. Man wird auch schneller Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt als in der Sächsischen Akademie. Es sei denn, man bekennt sich laut und deutlich zu Sachsen als Kulturregion. Aber wichtiger für diese Region als der seßhafte ist ohnehin der wandernde Lokalpatriotismus, es sind die verlorenen Güter, die man im Stillen mit sich herumträgt.
 
Die sächsische Prägung hat sich also auch nach bald zwei Jahrzehnten in Preußen erhalten.
   Sachsen oder Preußen, das berührt auch das Verhältnis Polen – Rußland. So kurios das klingt, hier wirkt noch immer die Herrschaft Augusts des Starken nach, seine europäische Doppelrolle. Er war sowohl Herzog von Sachsen als auch König von Polen. Wahrscheinlich ist deshalb Polen für mich ein so wichtiges Land. Es war die polnische Literatur, die mir die Augen geöffnet hat über die Fragilität des Ostblocks. Vor allem polnische Dichter haben mir früh den Ausweg gezeigt: Czeslaw Milosz oder Witold Gombrowicz, Zbigniew Herbert. Ich halte heute noch dafür, daß die Auflösung des Ostblocks aus Polen her erfolgte. Die Polen hatten einen viel tieferen Gegensatz zur russischen Besatzungsmacht und zu dieser fatalen Satellitenstation DDR, was bewirkte, daß es dort einen fundamentalen Widerstand gab: über Solidarnosc, vor allem aber über die katholische Kirche. Ein Widerstand, der eines Tages triumphierte, als plötzlich ein Pole auf dem Papststuhl saß. Man darf nicht vergessen, daß die Polen schon viel früher in diese Zwischenlage geraten waren, zuletzt nur von Napoleon unterstützt und danach eingeklemmt und aufgerieben zwischen Preußen und Rußland. Von daher konnten sie in Zeiten des Kalten Krieges auch einen viel ursprünglicheren Widerstand gegen die Systeme des Ostblocks entwickeln. Diese Haltung hat mich mit geprägt. Von Dresden aus bin ich immer gern nach Polen gefahren. Und bis heute ist mir der Moment in Erinnerung, als 1981 das Kriegsrecht in Kraft trat und plötzlich selbst diese Grenze gesperrt war: Auf einmal durfte ich nicht mehr nach Polen. Als ich dann beim Militär war, gab es sogar Einsatzpläne. Es fehlte nicht viel und unsereins wäre in NVA-Uniform in Polen eingerückt, so wie Jahre zuvor andere Truppenteile in Prag. Da war wieder diese Ohnmacht. Die Vorstellung, per Befehl in einem NVA-Panzer in eines der Nachbarländer einfahren zu müssen, hat mich nie verlassen als große Gefahr und Angsttrauma.
 
Um noch einmal auf diesen Exodus der Dichter zurückzukommen: War das nicht auch die Provinz, die in das Machtzentrum drängte?
   Sicherlich. Für jemanden wie Volker Braun spielen regionale Aspekte eine weniger wichtige Rolle. Der Tonfall ist allerdings charakteristisch.
 
Heinz Czechowski ließ von seinem Sonett An der Elbe aus dem Jahr 1957 später nur noch die Zeile gelten: »Sanft wie Tiere gehen die Berge neben dem Fluß.« Der Rest roch ihm zu sehr nach Illusion und Idyll. Dazu ein Zitat von Wulf Kirsten aus einem Essay mit dem Titel Die Stadt als Text: »Zu den lokalspezifischen Eigenheiten der ehemaligen Residenzstadt gehört eine Tendenz zum Gemüthaft-Behäbigen, die in ihrer abgründigen Haltbarkeit und Gründlichkeit wie für die Ewigkeit bestimmt scheint.« Diese lokale Mentalität, dazu der sächsische Dialekt und die Weichheit der Dresdner Topographie: Formen diese äußeren Bedingungen einen speziellen Ton im Schreiben?
   Untergründig ist das gewiß so. Noch deutlicher sichtbar als in der Dichtung wird das in der Malerei. Man kann das sehr gut an den italienischen Malern der Renaissance studieren. Den umbrischen Meister erkennt man sofort, im Gegensatz zu einem, der in der Toskana gewirkt hat oder noch weiter im Süden. Da spielen so viele Faktoren zusammen: das Licht, die Landschaftsformationen, die Vegetation bis hin ins Mineralogische. Diese frühe Prägung ist offenbar etwas, was man kaum abstreifen kann. Und umso vehementer man es abzustreifen versucht, desto deutlicher kehrt es wieder. Es ist der genetische Code des Künstlers, der mit seiner Ursprungslandschaft zusammenhängt, der ihm aber oft unbekannt ist.
 
Es fällt auf, daß in Dresden entstandene Lyrik weit mehr Landschafts- als Großstadtdichtung ist. In Ihren Texten hingegen spürt man den Herzschlag der Großstadt, auch in denen, die Sie in Dresden geschrieben haben.
   Ich habe tatsächlich viel über die Situation des Großstadtliteraten nachgedacht und geschrieben. So verschieden die Großstädte auch sind, kann man in ihnen doch auch sehr weite Räume überbrücken, indem man Brudergefühle oder Schwestergefühle zu anderen Großstadtbewohnern entwickelt. Für mich ist das offenbar sehr entscheidend. In diesem Sinne versuche ich noch heute, Dresden als Großstadt und ursprüngliches Zivilisationserlebnis festzuhalten. Das wirkt tiefer in mir nach als der landschaftliche Aspekt. Dresden war für mich immer auch ein Schutzschild gegen Idylle. Ich sehe in Dresden nicht die Idylle. So überschaubar die Stadt im Ganzen ist, muß sie doch einmal eine große, faszinierende Stadt gewesen sein mit allen zivilisatorischen Abgründen. Eine Stadt mit Rotlichtmilieu, mit Industrie, Mietskasernen und großen Verwaltungsgebäuden. Ein steinernes Gehege am Fluß. Immer, wenn ich irgendwo auf ähnliche Städte stoße, spüre ich dieses Echo. Da antwortet etwas, wenn ich nach Paris komme, nach Florenz oder nach Sankt Petersburg. Und noch in Amerika, obwohl der Typus von Stadt dort ein ganz anderer ist. Dann fühlt man sich plötzlich, ohne daß man weiß, wo es herkommt, in Boston heimisch.
 
Läßt man Begriffe wie Härte oder Weichheit der Sprache zu, dann scheint es so, als ob Ihre frühen Dresden-Texte, die zeitlich näher an Dresden liegen, härter klingen als die, die später entstanden. Ist das nicht ein Widerspruch zu der These, daß die äußeren Bedingungen, in denen man lebt, den Stil tangieren?
   Das ist eine Wirkung der Zeit. Die Zeit ist ein Weichmacher. Je mehr erlebte Zeit vergangen ist, desto untröstlicher wird alles, was man schreibt und damit tränenreicher, fließender. Jeder Jugend, überall auf der Welt, fällt es leichter, in harten Sätzen auszusprechen, was sie bedrückt oder was sie ablehnt. Dann kommen die Jahrzehnte, und man blickt auf dasselbe wieder, aber man wandelt sich, und aus der Ferne wird ganz unvermittelt Nähe. Aus brutaler Einsicht wird historische Gelassenheit. Dieses sandsteinerne Element, das ja auch ein Zug von Dresden ist: behauener gestalteter Sandstein, der aus dem nahen Gebirge hereingeholt wurde und in Portalen und Skulpturen wiederkehrt, das geht auch mit. Wie die Tiere bei Czechowski. Die sind sehr anhänglich. Die laufen hinterher.
 
Dann wäre der Stil der genetische Code, der nicht den Bedingungen der Umwelt unterworfen ist.
   Man kämpft eine Weile gegen die Ausgangsbedingungen an. Dann setzt Besinnung ein. Besinnung ist hier ganz wörtlich gemeint: daß alle Sinne in der Wahrnehmung wiederkehren. Ich glaube, daß in dieser jugendlichen Härte auch eine gewisse Unsinnlichkeit liegt, Steifheit, ein mangelndes erotisches Element. Man könnte von einer Erotisierung durch den Alterungsprozeß sprechen. Überhaupt, um einmal ganz griechisch zu werden: Es gibt gewiß einen spezifisch sächsischen Eros. Dresden zum Beispiel ist frivol. Eine meiner Lieblingsanekdoten paßt hierher: Einmal wurde der damalige zukünftige Preußenkönig Friedrich II. von seinem Vater nach Sachsen mitgenommen, an den Königshof. Bis dahin war er nur das Kasernenleben gewöhnt, diese garstige, karge, preußische Umgebung. Nun aber kommt er an einen solchen Musenhof, in eine ganz und gar laszive Gesellschaft, als junger Mann, halb noch Kind. Und als er eines Abends durch die Schloßgänge irrt, da öffnet sich plötzlich eine Tapetentür, und ein Frauenarm zieht ihn zu sich herein. Das war eine der vielen Mätressen. Und, ob es nun verbürgt ist oder nicht, er verliert da seine Unschuld. Und ist hin- und hergerissen, zum Teil angewidert. Diese Erfahrung aber wird für ihn zum Erlebnis einer viel größeren Sinnlichkeit, einer Bürde, die er mitschleppt und der er für den Rest seines Lebens sogar feindselig gegenübersteht. Aber das war der sächsische Hof! Hier konnten die Preußen ihre ersten sinnlichen Erfahrungen sammeln. Denken Sie nur an Gestalten wie jene Gräfin Cosel, eine Art sächsischer Marie-Antoinette. Und diese Legenden, die sich um August den Starken ranken, mit seinen über zweihundert unehelichen Kindern: Ein wahrer Liebhaber der schönen Töchter des Volkes! Das ist sehr sächsisch. Und solche Geschichten gibt es haufenweise. Aus Preußen ist mir nichts ähnliches bekannt.
 
O Heimat, zynischer Euphon heißt ein Gedicht in Schädelbasislektion. Was ist für Sie Heimat?
   In einem Text über die Sprache als Panzer heißt es einmal, Heimat sei diese Strecke von einer Bodenwelle zur nächsten. Das trägt unserer Situation im zwanzigsten Jahrhundert am ehesten Rechnung: der Entwurzelung. Heimat ist mit Sicherheit das, was man eines Tages verliert. Und nur imaginär wiedergewinnen kann. Es ist doch ein recht fataler Begriff. Andere Sprachen kennen ihn nicht. In Ezra Pounds Cantos finden sich einige wenige Passagen Deutsch. In einem der letzten Entwürfe, dem fragmentarischen Canto CXV, heißt es: »In meiner Heimat / where the dead walked / and the living were made of cardboards ...« Also: In meiner Heimat / wo die Toten umherliefen / und die Lebenden waren aus Pappmaché ... Seine Heimat war der Mittelwesten. Er wurde immer als Idaho-Kartoffel beschimpft. Pound war ein typischer Fall des zwanzigsten Jahrhunderts: zerrissen von einer selten wahnsinnigen Sehnsucht nach Weltkultur, die ihn schließlich nach Italien und in die Arme Mussolinis trieb. Man sollte ihm manche Verirrung nachsehen, wenn man berücksichtigt, daß es primär dieses unbändige Verlangen nach Kultur war und als zweites erst dieser antidemokratische Affekt, den er dann ausgeprägt hat und der ihn nach 1945 zu einem Unbelehrbaren gemacht hat. Ein seltener Fall von Kulturverliebtheit. In Pound haben wir einen solchen Fall, wie einer verrückt darüber wird, weil es ihn zerreißt. Unvergeßlich, wie ich, als ich mich für Pound zu interessieren begann, in einem DDR-Lexikon die Notiz las, daß dieser Schriftsteller geistig umnachtet in der Irrenanstalt landet und nach seiner faschistischen Liaison im Käfig von Pisa von den eigenen Leuten interniert wird. Auf ganz ähnliche Weise wie heute diese Taliban in Guantanamo Bay. Es ist interessant, daß die Amerikaner offensichtlich schon seit viel längerer Zeit diese Behandlungsmethode für Abtrünnige pflegen. Aber um noch einmal auf die klassische Moderne zurückzukommen: Ende des neunzehnten Jahrhunderts gab es in England zum Beispiel diese starke Strömung, die Präraphaeliten, und vielleicht ist dieses Moment, sich auf Raphael zu besinnen, ja mehr, als man weiß, zu einem kulturdominierenden Motor geworden. Dresden ist sicher auch eine der Hochburgen des Raphaelismus. Denn wenn Dresden eine Ikone hat, so ist es die Sixtinische Madonna. Vor diesem Bild zu stehen und stundenlang auszuharren und zu meditieren: das würde viele der Fragen, die wir jetzt berührt haben, beantworten. Auch die Weichheit, von der die Rede war und die nicht nur eine der Landschaft ist, sondern eine des kulturellen Verlangens, eine Anschmiegsamkeit an große europäische Weltkultur. Ich bin einmal in Urbino gewesen, der Geburtsstadt von Raphael, war dort auch in dem Raphael-Haus, und in diesem Moment, man ist weit draußen und viele Jahre sind ins Land gegangen, erinnert man sich plötzlich wieder an Dresden. Dresden muß eine Zeitlang eine dieser Idealstädte gewesen sein, von denen die Renaissance-Fürsten träumten: nach jener Grundidee der città ideale, die immer wieder im Denken herumspukt. Eine Stadt nach menschlichem Maß, die jedoch ein Maximum an Kulturblüte hervorbringt. Aber dann kommt das zwanzigste Jahrhundert, und alles wird verspielt und zertrampelt. Es wird zerbombt und geht dann völlig verloren. Das war für uns alle die Ausgangsbedingung. Alles ist aufs Spiel gesetzt worden, und man muß den Rest seines Lebens dazu verwenden, eine Einsicht in die historischen Prozesse aufzubringen, die dazu geführt haben. Es gibt kein Zurück, und es wird wahrscheinlich nie wieder eine so konzentrierte Blüte geben. Keine moderne Gesellschaft, die ich kenne, wird je mehr so viele Mittel für Repräsentation verwenden, wie es damals geschah. Was wir als Künstler tun können, ist, die Splitter, die Fetzen, die Reste solcher vergangener Repräsentationen weiterzutragen. Darin sehe ich einen Auftrag. So erklärt sich vielleicht auch ein gewisser frivoler Schönheitssinn, der sich im Schreiben behauptet. Ich glaube, das Schreiben ist ein Versuch, wenigstens Teile des zerstörten Puzzles wiederzufinden und hier und da auf linkische Weise zusammenzufügen. Als Adresse an eine unbekannte planetarische Zukunft.
 
 
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
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