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Oleh Lysheha
Die Schildkröte
  Heft 38
 
Ich nahm Witterung auf – gibt es hier nicht Pilze?
Die Eiche, das Moos, es ist feucht – hier irgendwo ...
Ein paar Schritte zur Seite, dann schnell zurückgeschaut –
Um ihn zu erwischen, bevor er sich im Gras versteckt ...
Da war jemand hinter dem Strauch.
Gebückt tat ich, als ginge ich weiter,
In Wirklichkeit näherte ich mich. Nein, ein Eichenblatt ist das nicht ...
Kein Stein ... Vielleicht eine Bronzeschüssel?
Auf einem hohen Mooskissen, sonnenbeschienen
Lag eine Schildkröte, alle Pfoten von sich gestreckt.
Vielleicht gehört sie jemandem ... aber keiner zu sehen, nein, die war wild ...
Als kleiner Junge habe ich eine in der Stadt Zaporizzja gesehen,
Ein brackiger Hafen war das ...
Aber diese hier, in einem ausgetretenen Wald ...
Ich hob sie auf –
Der untere Panzer ganz kühl ...
Eine Platte aus Horn, aber lebendig.
Am liebsten hätte ich die Last nicht aus der Hand gegeben.
Warum hast du nicht gesagt, wohin ich dich tragen soll ...
Das Bein war bleich, abgewetzt wie eine Handfläche –
Zweifellos ist hier eine Lebenslinie eingegraben,
Der lange Weg und der Tod ...
Ich setzte sie ins Moos
Und ging fort, ohne mich umzudrehen ...
Einige Tage noch – im Bus, in der U-Bahn
Fühlte ich ihre Kühle auf der rechten Hand –
Für Hände gibt es immer etwas zu tun –
Sägen, schaben, Lehm kneten ...
Es zog mich wieder in den Wald
Dort irrte ich den ganzen Tag umher
Konnte aber die Stelle nicht mehr finden.
Am Wegrand ein Ameisenhaufen.
Ich ging in die Hocke, näherte mich mit dem Gesicht.
Die flinken, geschickten Ameisen schienen
Spitze Nägel in ihren unterirdischen Bau zu schleppen ...
Plötzlich fiel die flache Rechte
Beinahe von mir ab und lag auf der Erde ...
Ich konnte sie kaum aufheben, so fremd war sie geworden und steif,
Überall klebten Eisenkristalle.
So unwürdig, grob und ungeschlacht,
Fern meinem Gesicht, den geschlossenen Augen ...
So einfach ist es also nicht
Einzudringen in meine Kuhhaut ...
Wie aus einem tiefen Brunnen drang langsam
Das Ameisengift in meine Adern ein, pulsierte dort ...
Beißt mich ruhig, ich werde es ertragen.
Als ich am frühen Morgen erwachte,
Untersuchte ich meine Handfläche –
Bleich und aufgespannt die Haut,
Zerfressen von Seife und Arbeit ...
Habe ich vielleicht geträumt, sie hätte
Wie auf einem Mooskissen
Ein Wesen gehalten, getupft von Blättern, der Sonne?
Weshalb habe ich sie gestern
In das aufgeregte Loch gesteckt zu den
Tobenden Ameisen?
 
 
Aus dem Ukrainischen von Petro Rychlo und Hans Thill
 
 
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
© Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017