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Milena Oda
An einem Ort vorbei
  Heft 23
 
Ich gehe dort nicht oft hin, nicht jeden Tag, ich gehe überhaupt nicht mehr hin, ich war dort nur einmal. Ich gehe daran oft vorbei, ich gehe dort jeden Tag vorbei, ich gehe aber nicht hinein, obwohl ich jeden Tag und jede Nacht vorbeigehe. Allzeit denke ich, ich muss noch einmal hinein, ja, du musst, sage ich mir, aber wenn ich einen Schritt hinein mache, selbstverständlich zögernd, zucke ich und gehe den Schritt, den ich gerade gemacht habe, zurück, ich stehe an Ort und Stelle und könnte, oder vielleicht – vielleicht will ich hineingehen, ich kann doch, weil es an der Strecke ist, die ich dreimal oder viermal jeden Tag gehe, unbegründet will ich dann nicht mehr hinein, vielleicht wäre ich nicht mehr so glücklich wie damals, als ich mich dort zum ersten Mal und gleichsam zum letzten Mal befunden hatte, es war eigentlich ein Zufall, dass ich hineinging, weil ich daran schon seit fünf Jahren vorbeigehe, ohne einmal vorher hineinzublicken oder hineinzuschreiten. Als ich aber den Ort des fehlerlosen Glücks – zufällig! – entdeckt hatte, empfand ich Schaffensfreude und geistige Frische, vielerlei zu machen, etwas zu schaffen, ich überzeugte mich, dorthin öfter zu gehen, ich war darauf versessen, ich freute mich darauf, wieder hinzugehen ... Es war natürlich schade für mich, dass ich den Ort des vollkommenen Glücks während der fünf Jahre nicht einmal besucht hatte, weil ich mich bei diesem letzten und zugleich ersten Besuch dort glücklich und sorglos fühlte, ich hätte den Ort immer dann besuchen können, wenn ich mich unglücklich und unzufrieden fühlte, das war aber unmöglich, weil ich aus gewissem, mir nicht immer klarem Grund nicht einmal hineinging. Leider dauert meine Überzeugung hineinzugehen und meine ganze Freude immer nur ein paar Minuten, danach ist alles weg ...
   Ich kann aber immer noch hineingehen, ich lasse mir die Zeit, es ist dumm, sage ich mir, ständig zu zögern, denn jeden Tag denke ich, wenn ich dem Ort ganz nah bin, ich sehe den Ort, jetzt gehe ich hinein! Nein, ich entscheide mich dann nach langer Überlegung, ich stehe dort und überlege, ich gehe meinen Weg, den ich seit fünf Jahren jeden Tag und jede Nacht mindestens einmal gehe, weiter, ich verschiebe den Besuch des Ortes auf den anderen Tag, und so mache ich es jeden Tag, jeden Tag zögere ich, überlege ich dort, peinige ich mich, bis mir dieser Gedanke zur Folter geworden ist. Jeden Tag lege ich mich auf die Folter, und der Gedanke, dorthin zu gehen, peinigt mich bis zum Schmerz, jeden Tag verschiebe ich schmerzhaft den Tag auf den anderen, also alle Tage, seitdem ich den Ort wieder besuchen will, denke ich qualvoll daran, den Besuch des Ortes zu verschieben, und es ist bereits ein unvermeidlich schmerzlicher Gedanke, unvermeidlich, weil man das Gefühl des Glückes wiederholen will, nur fehlt dazu der Moment der schnellen Entscheidungskraft.
   Die Möglichkeit des Besuches vermindert sich, weil ich den Weg bald verlasse und, denke ich, nie mehr wieder komme! Es bleiben jedoch noch einige Tage ... Leider kann ich zu dieser Zeit nicht so schnell eine Entscheidung treffen, schade, dass mir diese Fähigkeit fehlt, oder es fehlt nicht an der Fähigkeit zur Entscheidung, sondern die Faulheit herrscht in meinem schwachen Willen, ja, das ist vielleicht der schädliche Grund. Es ist natürlich kläglich und vollkommen schmerzdurchdrungen, dass ich mich bis heute noch nicht entschieden habe, hinzugehen. – Ja, der Ort, von dem ich immer spreche ... Wahrhaftig, immer mache ich ein paar Schritte, nur ein paar Schritte, es sieht so aus, als ob ich mich schon endlich ein für alle Mal entschieden habe hinzugehen, dennoch ziehe ich sofort zurück. Es scheint, dass man daran nichts verändern kann, dass ich in Wahrheit nicht mehr den Ort sehen will! Nein! Ich will, es ist vieles möglich, nur fehlt es an der Entschlusskraft! Vielleicht, ist es Angst vor der Enttäuschung, wahrscheinlich will ich nicht das Glück, das ich dort gefunden hatte, noch einmal erleben, vielleicht! Es ist auch das einmalige und einzige Erlebnis, das ich in dem Ort hatte, das sich auch genauso, in derselben Form nie wiederholen kann, weil die Her­zensfröhlichkeit unwiederbringlich ist ... aufgeregt bin ich nämlich über die ­plötzlich entdeckte Schönheit, das ist das Glück, von dem ich spreche ... Ja, Schönheit ist unser Glück, unsere Höllenpein, die unergreifbar ist ... Dort im Ort, von dem ich spreche, habe ich die Schönheit ganz und gar eingeatmet, die Eingenommenheit meines Kopfes, das ganze Stück des Ortes ist schon in mir, ich will nicht mehr hingehen ...
 
 
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1997 bis 2007 herausgegeben von Renatus Deckert und Birger Dölling · ISSN 1434-8306
© Lose Blätter und Autoren · Letzte Änderung: 26. Oktober 2017